Autor: Tadeusz Wojnarski jun.
Selbstporträt kurz nach Freilassung, [1991]
Gouache, Kohle, Papier; 30,2 x 15,5 cm
Strachówka: Sowjetischer Personalausweis, ausgestellt am 12.12.1941 in Namangan, Usbekische Sowietrepublik
Tadeusz Wojnarskis Deportationswege durch die Sowietunion bis in den Nahen Osten
Diesen Zeugenbericht schrieb Tadeusz Wojnarski in der Zeit seiner Militärausbildung im Nahen Osten 1943.
Mit sehr vielen anderen sind diese Aufzeichnungen auf der Webseite www.zapisyterroru.pl zu finden.
Am 1. September 1939 fiel die Armee des Dritten Reiches in Polen ein und begann damit den Zweiten Weltkrieg. Mein Vater war damals 17 Jahre alt und hätte gerade mit der letzte Klasse des Tadeusz-Rejtan-Gymnasiums in Warschau beginnen sollen. Anstatt am Unterricht teilzunehmen, schloss er sich sofort (und in den folgenden Tagen) dem Hilfsdienst bei der Flugabwehr an. Das mit Bombardierungen gequälte Warschau musste er bald verlassen. Zusammen mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder wurde er an die südöstliche Grenze des Landes evakuiert, ohne die Gefahr aus dem Osten zu ahnen. Am 17. September griff die Rote Armee der UdSSR unerwartet an und besetzte die östlichen Gebiete Polens. Bald darauf war das Land durch beide Aggressoren besetzt.
Anfang 1940 beschloss meine Grossmutter Eugenia Wojnarska, mit ihren Söhnen in das unter deutscher Besetzung stehende Warschau zurückzukehren. Im Grenzort Przemyśl, überfüllt mit Flüchtlingen, hoffte sie auf eine schnelle und legale Rückkehr nach Hause. Angesichts der Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Passierscheinen stimmte sie schweren Herzens dem Vorschlag zu, dass Tadeusz die deutsch-sowjetische Grenze illegal mit Hilfe eines bezahlten Schleppers überquerte und allein weiter nach Warschau reiste. Eines Winterabends, in ein weisses Laken gehüllt, fand sich der junge Wojnarski zusammen mit drei weiteren Mutigen und einem „teuren aber sicheren Reiseleiter“ auf dem zugefrorenen Fluss San ein, durch den die von den Besetzern festgelegte Grenze verlief. Über diese erfolglose und tragische Überquerung berichtete Tadeusz Wojnarski in seinen Memoiren u.d.T. Erzählungen aus der frühen Jugend:
Die Kolonne weisser Figuren bewegte sich schweigend. Das Knirschen des Schnees übertönte das Schlagen der Herzen. Die stern- und mondlose Nacht war unser Verbündeter. […] plötzlich stoppten wir wie versteinert, wie ein Haufen Schneemänner. Einige Schritte entfernt eine kurze, scharfe Stimme auf russisch: «Stopp! Wer da!» Dann ein paar Schüsse, Hundegebell. Wir warfen uns in den Schnee. Aber das half nichts, die Grenzwache brauchte uns nicht lange zu suchen, sie pickten uns wie Krebse aus der Falle heraus. 1
Die Erinnerung an diesen ungeglückten Versuch, die Grenze zu überschreiten, hielt mein Vater Anfang der 90er Jahre als reifer Künstler auf Papier fest, (Abb. 1; diese Szene ist auch die erste einer Serie von 13 Werken, die sein weiteres Schicksal als sowjetischen Gefangenen und Befreiten zeigt – Abb. 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 14).
Am 8. April 1940 wurden Tadeusz Wojnarski und viele andere Leidensgenossen, nach anderthalb Monaten unter unmenschlichen Bedingungen in einem Gefängnis in Przemyśl, in einem geschlossenen und überfüllten Güterwagen in eine ihm unbekannte Richtung gefahren (Abb. 2). Nach vier Tagen erreichte der Zug Odessa. Dort wurde der junge Wojnarski wieder in ein Gefängnis gebracht (Abb. 3). Nach vier Tagen erreichte der Zug Odessa. Dort wurde der junge Wojnarski wieder in ein Gefängnis gebracht. Im Januar 1941 fielen die ersten Urteile. Bald erfuhr auch mein Vater seine Strafe. In seinen Erzählungen aus der späteren Jugend beschrieb er es wie folgt, mit seinem spezifischen schwarzen Humor:
Mein Fall war nicht so schwer. Als ich an die Reihe kam und einem Kommissar oder einem anderen Diener ihres Systems vorgeführt wurde, verkündete dieser, ich sei wegen der Verletzung der sowjetischen Grenze zu 5 Jahren Verbesserungshaft im Arbeitslager „Stancja Sama” verurteilt worden. Ich musste dieses Urteil unterschreiben und hatte keinen Grund, mich zu wundern. Es war keine Überraschung: Ich bekam so viel, wie ich es verdient hatte. War ich besser als die Anderen? «Wo ist diese Stancja Sama?» – «Im Nordural!» – tönte die Antwort. 2
Der Transport „zu den Eisbären“ fand etappenweise wie gewohnt in Gefängnisgüterwagen statt: Charkiw – Pensa –Sysran – Tscheljabinsk – Sverolovsk (heute Jekaterinburg) – Sama – Iwdel. Mein Vater erinnerte sich:
Die Reise zu den Gulag-Lagern dauerte etwa eineinhalb Monate. Wir wurden von Gefängnis zu Gefängnis gefahren, blieben in jeder Etappe etwa 10 Tage und näherten uns dem uns zugewiesenem Ziel. 3
In Tscheljabinsk steckte man Vater und Maciejewski, einen Polen, mit dem er sich befreundet hatte, in eine Transitzelle für schwere Gemeinverbrecher, sogenannte ‹Blatnoj› (Mitglieder einer kriminellen Vereinigung, mit ihrer Gewaltbereitschaft übten się Macht aus und bildeten eine geschlossene Gruppe – Anm. TW jun.). Die Zelle war überfüllt, er schlief auf dem Boden. Ale er einen frei gewordenen Pritschenplatz einnehmen wollte, drohte im ein ‹Blatnoj› (Abb. 4):
«Kak nie pajdiosz, ubiju tiebia na huja» [dt. etwa: Wenn du nicht verschwindest, kriegst du eins auf den Schwanz] (Maciejewski gab nach, mein Vater blieb … TW. jun.). «Da nahm mein ‹Blatnoj› eines der Bretter aus der Pritsche und bedrohte mich: «Ich werde dich töten, ich gehe für fünf Tage in die Strafzelle, aber du wirst tot sein» – er sprach langsam und wie widerwillig. Ich verstand, dass er keinen Spass verstand: Das war das Recht dieser Kaste. Als Maciejewski rief, ich soll Ruhe geben, gab ich nach. Da begann ein zweiter, bisher ruhiger Killer, sich wütend einzumischen: «Ihr Hundepolen! Erinnert ihr Euch an das Jahr zwanzig? Und an Piłsudski?»“ Seine Augen blitzten zornig und gaben dem grausamen Gesicht dieses Schurken einen solchen Ausdruck, dass uns die Angst überwältigte. 4
Ja, er wusste genau, wie damals (1920) die neu entstandene Polnische Armee unter dem Kommando von Piłsudski diese ‹unbesiegbare Rote Armee› vernichtend schlug.
Es stellte sich heraus, dass der Zielort ein von Wäldern umgebenes Lager (oder eines umfangreichen Lagersystems) im Gebiet der Stadt Iwdel am Fusse des nördlichen Urals war. Der Zug mit den Verurteilten – der etwa 4000 km zurückgelegt hatte – kam dort am ersten Frühlingstag 1941 an. Die Temperatur betrug immer noch 20 Grad unter Null. (Abb. 5)
Im iwdeler Lager, das den Ruf hatte, eines der härtesten zu sein, arbeiteten die Deportierten an der Abholzung des Waldes. Ihre Aufgabe war es, Bäume zu fällen, Stämme von Hand auf Lastwagen zu hieven und Holz in einem Sägewerk zu verarbeiten. Am schlimmsten war, die Baumstämme auf den Lastwagen zu heben, betonte mein Vater Jahre später (Abb. 6) und beschrieb es ausführlich:
Zu Viert oder Fünft der sogenannten »zwienami« [aus dem Russischen, bedeutet etwa Mannschaft – Anm. Übers.] musste man mit den Holzblöcken zurechtkommen, die manchmal mehr als eine halbe Tonne wogen. Nur mit den Armen und mit Hilfe der primitivsten Hilfsmittel wie Holzstangen, landeten die Holzstämme auf den Lastwagen. Bis einem die Därme herausquollen! Aber sie quollen nicht heraus, da ich sonst diese Erinnerungen nicht hätte schreiben können. Erst nach Einbruch der Dunkelheit, nach einem vierzehnstündigen Arbeitstag, kehrten wir ins Lager zurück. 5
Die Zwangsarbeit bei der Abholzung des Waldes bei unmenschlich niedrigen Temperaturen strapazierte Wojnarskis Körper. Die Lagernormen waren absurd überzogen, und die Kraft zur Arbeit nahm von Tag zu Tag ab – zumal die Nahrungsrationen hungermässig bemessen waren. Das Leben im Lager wurde noch erschwert durch die Wachen, die oft aus der schlimmsten Kategorie von Menschen kamen, d. h. „Diebe, Mörder, Vergewaltiger – Kriminelle, die sich ohne Bedenken auf Kosten ihrer Mitgefangenen ein komfortables Leben herausnahmen“ 6.
Im Frühsommer 1941 wurde Vater in ein anderes Lager innerhalb des riesigen Lagerkomplexes von Iwdel versetzt, wo er in die Nachtschicht einer Sägerei eingeteilt wurde. Sie dauerte von sechs Uhr abends bis acht Uhr morgens. Seine erste Aufgabe bestand darin, Wasser für die Dampfmaschine anzuschleppen, die rund um die Uhr lief. Diese Arbeit prägte sich sehr stark in sein Gedächtnis ein. Jahre später erinnerte er sich:
Ich erhielt zwei Eimer, mit denen ich Wasser aus einem wenige Dutzend Meter entfernten Teich tragen musste. […] Die Dampfmaschine „trank“ nicht Wasser, sie „soff“. Um sie am Laufen zu halten, musste ich während einer Nacht hunderte von Eimern schleppen. Dies zwei- bis dreihundert Mal, hin und zurück. Das Füllen der Eimer war mit eigentümlichen akrobatischen Gleichgewichtseinlagen verbunden. Glücklicherweise waren die Nächte hell. Das erleichterte die langweilige Aufgabe, das Wasser halbliegend am glitschend-lehmigen Ufer zu schöpfen. Wie wunderschön waren diese Nächte! Langsam und flach schwebte die Sonne über den Horizont, den roten Himmel selbst nach ihrem Untergang mit einer Aurora erhellend, um bald wieder mit dem Saum ihrer feurigen Scheibe zwischen dem Gestrüpp auf der anderen Seite des Teiches hervorzulugen, langsam und majestätisch aufsteigend und ihr vibrierendes Licht über die sibirische Landschaft zu ergiessen. Die Birkenzweige am gegenüberliegenden Ufer färbten sich rötlich, guckten kokett auf das spiegelnde Wasser, als wollten sie ihre Morgentoilette verrichten. Das Schilf auf meiner Seite stach mit dunklen Spitzen in den Himmel und aus einem hellen Nebel zerfloss die ganze Landschaft in weichen Pastelltönen. Für Begeisterung blieb jedoch keine Zeit, denn der Schichtführer schrie sofort auf russisch: «Hej, du, was machst du dort?» Und für einen Moment stockte die Bewunderung der atemberaubenden Natur, brutal von Menschen vergewaltigt. Nach dieser Stimme fasste ich die Eimergriffe kräftiger an und tauchte sie schnell in die rot-silberne Flüssigkeit, die nötig war, um die unersättliche Gier der Dampfmaschine zu befriedigen.7 (Abb. 7)
Mit der Zeit hat sich Vaters ohnehin schon schwieriges Leben weiter verschlechtert. An seinem Bein litt er an einer akuten, eitrigen, bakteriellen Entzündung des Bindegewebes (begleitet von starken lokalen Schmerzen und Schwellungen, sowie hohes Fieber) und wurde ins Lagerkrankenhaus gebracht.
An einem Sommertag 1941 schlug in den Lagern eine Nachricht ein:
«Die Deutschen haben den Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion gebrochen und marschieren in einer grossen Offensive nach Moskau!» Das war unglaublich! Sollten wir jetzt Befreiung von den Angreifern unserer Heimat erwarten? Das ist absurd, aber in der Hoffnungslosigkeit wird auch Absurdität zur Hoffnung.8
Die Polen wurden vorerst in ein entferntes Aussenlager versetzt:
Die Arbeit an der ‹Przystania› war unter den neuen Bedingungen schwer: Ein zerstörter Wald. Der Weg zur einer meiner letzten Arbeitsstellen war weit – etwa zwei Stunden Marsch. Ein grosser Teil des Weges führte durch verbrannte Wälder. Emporragende schwarze Stümpfe, einst schöne, gesunde Bäume, erfüllten unsere Seelen mit Sehnsucht und Schmerz. Die Realität um uns herum bedeutete Tod und Zerstörung. Zwischen den Überresten des verbrannten Waldes und den wandelnden menschlichen Schatten bestand eine tiefe, symbolische Verbindung. 9 (Abb. 8)
Es war jedoch nicht die deutsche Armee, die ihn vor dem sicheren Tod auf der „unmenschlichen Erde«10 rettete. Kurz nach dem Angriff Deutschlands auf die UdSSR wurden die abgebrochenen diplomatischen Beziehungen zwischen der polnischen Exilregierung in London und den Sowjets wieder aufgenommen. Dies führte zur Unterzeichnung des Sikorski-Majski-Abkommens. Im Rahmen dieser Vereinbarung „amnestierten“ die Sowjets Tausende von verhafteten und tief in die Sowjetunion verschleppten Polen. Aus ihnen sollte eine polnische Armee aufgebaut werden (später bekannt als Anders-Armee), die zusammen mit der Roten Armee gegen Deutschland kämpfen sollte. Für Tausende von Soldaten und Zivilisten, die seit dem Einmarsch im September 1939 festgehalten wurden, öffneten sich die Tore von Lagern und Gefängnissen. Unter ihnen fand sich auch mein Vater. Der Weg zur Freiheit war jedoch beschwerlich. Sein Hauptproblem war das ihn immer noch quälende entzündete Bein. Einige Tage nach der Operation war er grundsätzlich nicht im Stande, irgendeine Reise anzutreten. Zudem mehrten sich die Schwierigkeiten. Auf dem Weg von seinem Lager zum Hauptlager Iwdel, von wo er die Weiterreise antreten sollte, stellte sich heraus, dass er mangels notwendiger Papiere wohl die Nacht draussen hungernd und in der Kälte würde verbringen müssen. Obwohl ihn Fieber schüttelte und das wunde, geschwollene Bein schmerzte, machte er sich mit einem ebenfalls humpelnden Freund auf in die Stadt, um etwas Essbares zu finden. Es war glücklicherweise eines der Abenteuer, welches ein gutes Ende fand. Wojnarski erinnerte sich über ihre grosse Überraschung:
Plötzlich kam eine Frau mittleren Alters aus einem Haus, einfach aber ordentlich gekleidet, und kam schnell auf uns zu. Sie sagte kein Wort, sondern gab jedem eine grosse Scheibe Brot mit lecker gebackenem Fisch. Überrascht von dieser unerwarteten Grosszügigkeit konnten wir uns nicht bedanken, denn die Frau verschwand zwischen Bäumen und Häusern. Dieser Akt christlicher Barmherzigkeit erschien uns wie ein Traum. 11 (Abb. 9)
Tadeusz Wojnarski verliess den riesigen Lagerkomplex von Iwdel Ende September 1944 (Abb. 10), ausgestattet mit einem Passierschein, einem 3-Klass-Bahnbillet nach Namangan (Usbekistan), wo einer der Rekrutierungspunkte der polnischen Armee eröffnet werden sollte, und 15 Rubel Taggeld für 13 Tage. All das wurde ihm bald gestohlen. In Tschkalov (Chkalov) fand er für die Übernachtung eine riesige Halle, in die sich grosse Menschenmassen hineingedrängt hatten:
Es muss nach Mitternacht gewesen sein, als sich bei mir die Natur meldete. Am Bahnhof fand ich eine Toilette, und nachdem ich mich dem Recht der Natur gefügt hatte, kehrte ich schnell in meine warme Halle zurück. Das heisst, ich versuchte es, aber am Eingang stand plötzlich eine Miliziantin von gewaltigem Brustumfang und versperrte mir den Weg. Vergeblich erklärte ich ihr, dass drinnen mein Freund mit all meinen Sachen war und dass es mich sehr fror. Das hat sie überhaupt nicht beeindruckt. «Nie lzja, nie lzja.» (nicht möglich). 12 (Abb. 11)
Seine zeichnerischen und malerischen Fähigkeiten, die er bereits zu Schulzeiten unter Beweis gestellt hatte, erwiesen sich als unentbehrlich. Die sporadisch erstellten Porträts von Menschen, die er unterwegs traf, gaben ihm die Möglichkeit, ein paar Rubel zu verdienen, um Brot und sogar wärmere Kleidung kaufen und seine Reise fortsetzen zu können.
Nach einer zweieinhalb Monate dauernden schweren Reise erreichte mein Vater am 12. Dezember 1941 Namangan. Das bedeutete keineswegs das Ende des Albtraums. Die Sammelstelle wurde erst einige Wochen später eröffnet, und bis dahin musste er sich selber irgendwie durchschlagen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mit seiner Porträtmalerei und es gelang ihm, in einer örtlichen Tschaihana (usbekisches Teehaus) eine Unterkunft zu finden. Die freundschaftliche Beziehung zwischen ihm und dem Besitzer der Tschajchana erwies sich bald von unschätzbarem Wert. Bald nach seiner Ankunft in Namangan erschien ein «Dekret», welches den usbekischen Teehäusern verbot, Gäste zu beherbergen. Vater’s gutherzige Gastgeber erlaubten ihm jedoch, weiterhin in ihrer Tschaihana zu übernachten – aber nicht im Hauptlokal, sondern in einem Hinterzimmer.
Aus der Zeit in Namangan blieben meinem Vater besonders zwei Ereignisse in Erinnerung, das erste betraf dieses Verbot. Eines Abends kam er früher in sein Teehaus zurück, weil sich ein starker Sturm ankündigte. Müde legte er sich hin…
Langsam begann ich mich schläfrig zu fühlen, als ich plötzlich zu hören glaubte, dass jemand an die Tür der Tschaihana klopfte. (…) Das Klopfen wurde immer heftiger und verwandelte sich in ein Schlagen mit Fäusten, so dass die Usbeken hinten das nicht überhören konnten. Schliesslich – verloren in Nacht, Sturm und Kälte – begann der Mensch um Mitleid zu flehen. (…) Die Gastgeber gaben kein Lebenszeichen von sich. Denn, Dekrete im sowjetischen ‹Paradies› waren ernst zu nehmen, also durfte niemand für die Nacht in die Tschaihana eingelassen werden. Ich, der einzige nächtliche Gast wider übermächtiger Autorität, einflusslos im Innern der rettenden ‹Arche› eingeschlossen, zitterte wie im Fieber… Trauer drückte das Herz, und eine unbegreifliche Furcht… Für einen Augenblick war es mir, als nicht der andere sondern ich auf der anderen Seite der ‹Bordwand› war. (…) Mit Zittern betete ich für mich selbst und für den, der nicht mehr schrie, sondern wie ein Hund winselte, und sein Klopfen wurde schwächer und schwächer. Bis es ganz verstummte. (…) Als ich am Morgen mit angstvollem Herzen hinaustrat, erschütterte es mich gewaltig: neben dem Eingang zur Tschaihana lag derjenige, der nachts so vergeblich klopfte. Er lag unbeweglich, mit seinem Gesicht im Schlamm, mit gespreizten Fingern, die sich mit letztem Willen an das letzte Brett der Rettung klammerten: die Mutter Erde… Er fror für immer ein, ohne die Morgensonne zu erblicken, die ihn wärmte… 13 (Abb. 12)
Das zweite Ereignis war mit einem unangenehmen Besuch verbunden: er musste sich gleichentags bei der NKWD-Miliz [Geheimdienst; Anm. d. Übers.] melden. Er ahnte einen neuen Sturm… und der Sturm kam. Der NKWD-Agent versuchte mit aller Kraft, ihn als Spitzel gegen seine Landsleute anzuwerben. Natürlich widerstrebte ihm jedwelche Denunzierung und erregte die grösste Abscheu in ihm, aber eine offene Ablehnung wäre lebensgefährlich gewesen. Also versuchte er, die Entscheidung tagelang mit allen möglichen Tricks zu verzögern. Als es brenzlig wurde, gelang es ihm glücklicherweise und im letzten Moment, sich Ende Januar 1942 in die soeben eröffnete polnische Militärsammelstelle in Gorczakow bei Namangan zu retten.
Am 23.1.1942, kurz bevor er sich zum Sammellager im nahen Gortschakow begab, portraitierte er einen jungen Usbeken. In einem Ausstellungstext schrieb er:
Ein Detail an seiner Tracht gefiel dem usbekischen Auftraggeber in Namangan nicht. Ich machte ihm ein neues Portrait. So blieb mir dieses als einzige Erinnerung meines damaligen Schaffens.. (Abb. 13).
Fussnoten
1 J. Pył (T. Wojnarski), Opowiadania z wczesnej młodości, (Erzählungen aus der frühen Jugend), „Nasza Gazetka” (Unsere kleine Zeitung), 1998, Nr. 7 (200), S. 4, 6.
2 Ebd., S. 21
3 Ebd., S. 27
4 Ebd., S. 31
5 Ebd., S. 38
6 Ebd., S. 51
7 Ebd., S. 41-42
8 Ebd., S. 45
9 Ebd., S. 47
10 Auf polnisch „nieludzka ziemia“ und steht als Synonym für den Gulag in der Sowjetunion – Der Austruck geht zurück auf das gleichnahmige Buch von Józef Czapski (Aus dem Polnischen überssetzt von Willy Gromek.).
11 Ebd., S. 63
12 Ebd., S. 79
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